"Digitale Begleiter" sind medizinische Hilfsgeräte

Hamburg, 12.10.2009 (msc).

Telematik im Gesundheitswesen: Fluch oder Segen? Die Gesellschaft diskutiert kontrovers über den Sinn und Zweck von "digitalen Schutzengeln" / Begleitung oder Verfolgung? Was Betroffene, Pflegende, Rechtsanwälte, Vereine und Polizei dazu sagen...

Einsatz von sogenannten Personenortungssystemen - ein umstrittenes Thema, aber die Gesellschaft muss sich zu diesen medizinischen Hilfsgeräten der Telematik-Branche positionieren. Demenz ist in Deutschland und weltweit auf dem Vormarsch. Besonders gefährlich für die Erkrankten ist die sogenannte Weglauftendenz: Viele Menschen sind in Sekundenschnelle verschwunden und sterben nach Tagen des Umherirrens an Entkräftung. Welche Präventionsmöglichkeiten haben Angehörige und Betreuer? Abhilfe versprechen neueste Personenortungssysteme. Doch es gibt Vorbehalte. Im niedersächsischen Oldenburg hatte es im Winter so einen Fall gegeben. Eine über 70-jährige demente Frau war verschwunden, irrte orientierungslos umher, doch niemand hatte sie beobachtet. Die Polizei schwärmte mit Hundestaffeln aus, man suchte an einem nahe gelegenen See, in Gräben - nichts.

Wie viel Hilfe steht hilfebedürftigen Personen zu?
Die Angehörigen waren verzweifelt, baten die Bevölkerung um Hilfe, Zeitungen unterstützten die Suche bis man die Frau nach vielen Wochen fand - tot. Dass Suchtrupps Vermisste im Graben entdecken oder ein Nachbar den fortgelaufenen Großvater hinter dem Gartenschuppen findet - die Meldungen lauten immer wieder ähnlich, wenn an Alzheimer erkrankte oder demente Menschen weggelaufen sind, aus Heimen, aus der eigenen Wohnung, aus der Obhut ihrer Betreuer. Fälle, die sich in Zukunft noch häufen werden. Experten sprechen angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung bereits von einer globalen Alzheimer-Epidemie.

Jährlich erkranken 280.000 Menschen an Demenz
Demenzen, zu denen auch Alzheimer zählt, gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen bei den über 65-Jährigen. Bereits jetzt leiden in Deutschland bis zu 1,3 Millionen Menschen an Demenz. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft rechnet mit 280.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Zwei Drittel entfallen auf Alzheimer. Bei den über 90-Jährigen soll mehr als ein Drittel von Alzheimer betroffen sein. 60 Prozent der Heimbewohner in Deutschland leiden an Demenz. Viele erkrankte Menschen haben eine sogenannte Weglauftendenz, sind, manchmal nahezu unter den Augen ihrer Betreuer, in Sekundenschnelle verschwunden und unauffindbar. Ein permanentes Überwachen der dementen Personen ist im Alltag der Heime oder auch durch Angehörige kaum zu leisten, daher stellt sich die Frage, wie sich das Weglaufen verhindern oder die damit verbundenen Gefahren verringern lassen. Personenortungssysteme sind dabei immer wieder im Gespräch, ihr Einsatz allerdings ist aus ethischen Gründen umstritten.

Wie Personenortungs- systeme funktionieren
Unternehmen, die ihr Geschäftsfeld im Bereich der Telematik angesiedelt haben, entwickeln immer bessere Personenortungssysteme, die als medizinische Hilfsgeräte am Markt sind. Diese Geräte senden via GPS-Ortung punktgenau und nach gewählter Häufigkeit regelmäßig (beispielsweise alle 20 Sekunden) Signale, die auf ein Online-Portal den aktuellen Standort der betreffenden Person abbilden, von wo aus die Betreuer den Weg verfolgen können. Der Aufenthaltsort lässt sich auf 5 bis 10 Meter genau bestimmen. Ein- oder Ausschalten des Gerätes ist dabei nicht nötig, das Aufladen genügt. Auch virtuelle Zäune lassen sich einrichten: Verlässt die Person den zuvor festgelegten Bereich, wird dies ebenfalls sofort gemeldet. Aber auch verirrte Personen selbst können mit dem Gerät Notrufe absetzen. Diese müssen nicht direkt an Polizei oder Rettungsdienste gehen, sondern an eine vorher vereinbarte Nummer, wie die der Tochter oder des Enkels. "Das ist besonders wichtig, um die Selbstständigkeit der erkrankten Menschen zu erhalten.

Selbstständigkeit so lange wie möglich erhalten
Die Betroffenen können in den Supermarkt oder zum Arzt gehen, ohne dass man gleich befürchten muss, sie zu verlieren", sagt Michael Bachmann, der als Pflegender diesem "digitalen Schutzengel" nur positives abgewinnen kann. "Das macht alle Beteiligten ruhiger. Der Mutter ist bewusst: Mein Sohn weiß, wo ich bin. Und wenn sie einen Notruf absetzt, geht der an mich und nicht sofort an fremde Menschen und setzt nicht gleich einen Riesenapparat in Bewegung."

Wissenschaftliche Untersuchungen bescheinigen einen hohen Nutzen
"Eine ganze Menge Nutzen" solcher Ortungssysteme sieht auch Hans-Werner Wahl, Professor am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg und Leiter der Abteilung für Psychologische Alternsforschung. Er untersucht unter anderem den Einsatz von Technik wie den Personenortungssystemen bei Alzheimererkrankungen in einer eigenen Studie. Man müsse natürlich, gerade beim Einsatz in Heimen, die Angehörigen mit einbeziehen, immer im Diskurs bleiben, findet Wahl. Dann könne man durch die Systeme "viel Gutes" erreichen. Gerade bei der Suche nach weggelaufenen Personen sieht der Professor Vorteile. Wenn die Betroffenen erst einmal verschwunden seien, gehe es um Schnelligkeit, und mit Geräten wie diese "digitalen Schutzengel" sei man schneller als die Polizei.

Real und merkbar fixieren oder unsichtbar begleiten
Wahl glaubt außerdem an eine Förderung der Lebensqualität: Schon im Vorfeld könne man bei Erkrankten vielleicht weniger auf das Fixieren, also Festbinden, setzen. Eine ethische Diskussion sei aber nötig. Eine verbreitete Skepsis gegenüber den Personenortungssystemen beruhe auf einer "tiefsitzenden Angst vor Big Brother, vor dem gläsernen Menschen." Gerade in unserer Kultur sei diese Furcht verbreitet, man könne seine Autonomie verlieren. "Viele Pfleger denken, zur guten Pflege gehört doch keine elektronische Fußfessel." Angehörige, so zeigten es erste Ergebnisse seiner aktuellen Studie, seien da weniger ambivalent, berichtet Wahl. Große Zurückhaltung bei Pflegeeinrichtungen beobachtet auch Detlef Driever, Fachanwalt für Sozial- und Medizinrecht aus Bremen. Diese hätten oft Vorbehalte gegenüber technischen Neuerungen. Telematik-Systeme finde man daher eher im privaten Bereich.

Pflegeeinrichtungen distanziert, private Betreuer offen
Driever kennt einen Fall, bei dem ein Kind aufgrund einer Hirnschädigung an Orientierungsschwierigkeiten litt und sich häufig auf dem Schulweg verirrte. "Da ist so ein Ortungssystem hilfreich, sonst gibt es ja gleich eine große Suchaktion." Schließlich, meint Driever, könne man die Erkrankten ja nicht ständig persönlich überwachen. "Wo noch Bewegungsmöglichkeiten sind, hat so ein ,digitaler Schutzengel' seine Berechtigung." Driever, der auch Pflegemanagement unterrichtet, überlegt gerade, einen Leistungstest von Personenortungssystemen als Modellprojekt wissenschaftlich zu begleiten. Unter den Pflegeeinrichtungen, die er kennt, ist jedoch keine dabei, die den Einsatz eines solchen Gerätes in Erwägung zieht.

Ablehnung kommt aus den Reihen der Deutschen Alzheimergesellschaft
Zu Recht, findet Ulrike Knebel. Sie ist 2. Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und Pfarrerin in Dortmund und gehört zu den Gegnern von Personenortungssystemen. Dabei weiß sie, wovon sie spricht: Ihre eigene Mutter war ebenfalls betroffen. "Wenn ich daran denke, wie viele Stunden ich sie verzweifelt gesucht habe und in der Stadt herumgefahren bin…" Dennoch, viele Menschen, die nach dem Weglaufen von der Polizei wieder gefunden würden, sagten, es sei schön gewesen, und hätten sogar ein Gefühl der Freiheit beim Weglaufen. Personenortungssysteme, meint Knebel, dienten mehr der Beruhigung der Angehörigen. Ihrer Meinung nach verstoßen diese Systeme gegen die Menschenwürde. "Und der Standort der Menschen muss dann ja auch regelmäßig überprüft werden, und wenn einer seinen festgelegten Bereich verlassen hat, muss der Pfleger hinterhergehen, das kann doch gar nicht kontinuierlich geleistet werden." Eine bessere Alternative ist für Knebel, beispielsweise Gärten "eben so zu bauen, dass die Leute nicht rauskönnen". Und wenn sie doch entwischen? "Freiheit ist auch die Freiheit, weglaufen zu können", meint die Pfarrerin.

Stimmen mehren sich, die eine "große Erleichterung" erkennen
Eine Erleichterung sieht dagegen Christine König in den Ortungssystemen. Sie ist Pflegedienstleiterin in der "Residenz zwischen den Auen" im niedersächsischen Kurort Bad Zwischenahn. Sie ist eine Ausnahme unter den Heimbetreuern. Wenn sie auch kein solches System benutzt, weil in ihrem Heim ohnehin nur zwei Personen ein solches benötigen könnten, so bewertet sie es doch uneingeschränkt positiv. "Wenn man jemanden sucht, geht es so viel schneller." Ihrer Meinung nach sind es die Angehörigen, die vor den Kosten zurückschrecken. Dabei seien diese mit bspw. 39,90 € pro Monat kaum höher als ein Handyvertrag. König wünscht sich eine Übernahme durch die Kassen, "zumindest bei Demenzstufe 3, mit hoher Weglauftendenz. Wenn ein alter Mensch stürzt und sich etwas bricht, dann kostet das viel mehr, OP, Reha…"

Personenortung im medizinischen Dienst wird sich durchsetzen
Christine König glaubt daran, dass sich trotz Anfangsbedenken die Ortungssysteme durchsetzen werden. Nicht zuletzt, weil die Zahl der dementen Personen immer weiter wächst. Auch Psychologe Wahl sagt einen häufigeren Einsatz der Systeme voraus. Noch sei man im Entwicklungsstadium. Auch Kostengründe spielten eine Rolle, doch "ich bin sicher, wenn belastbare Daten vorliegen, die ein Funktionieren der Systeme bestätigen, dann kommt auch eine öffentliche Finanzierung."

Detlef Driever, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizin- und Sozialrecht:

Detlef Driever, Bremer Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizin- und Sozialrecht, erläutert die rechtliche Seite: Bedarf es für die Nutzung von Personenortungssystemen in der Altenpflege einer gerichtlichen Genehmigung bzw. sind diese Fälle einer freiheitsentziehenden Maßnahme im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB gleichzustellen, die einer Genehmigung durch das Betreuungsgericht bedarf? "In vielen Fällen können/sollen an Demenz erkrankte Personen sich auch außerhalb des Heimes selbstständig bewegen. Häufig sind diese Bewohner durchaus noch dazu in der Lage, sich eigenständig zu orientieren. Personenortungssysteme dienen lediglich der Bestimmung des Aufenthaltortes, wenn z. B. ,an schlechten Tagen' der Rückweg nicht geschafft werden kann. In diesen Fällen ist es ein technisches Hilfsgerät, das die persönliche Betreuung durch das Pflegepersonal sinnvoll ergänzt. Trotz der gesundheitlichen Einschränkung bleibt ein Optimum an persönlicher Freiheit und Sicherheit gewährleistet."

1. Grundsätzlich ist das Anbringen/ Verwenden eines Personen-Ortungssystems keine freiheitsentziehende Maßnahme, die einer gerichtlichen Genehmigung bedarf.

2. Rechtlich ausreichend ist eine Einwilligung des Betreuers oder Bevollmächtigten.

3. Eine gerichtliche Genehmigung ist nur in den Fällen erforderlich, in denen die Betroffenen stets und ausnahmslos am Verlassen des Heims gehindert werden sollen.

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